Festschrift 100 Jahre Marktgemeinde Gratkorn

Die Erhebung einer Gemeinde zur Markt- gemeinde bringt zwar keine besonderen finanziellen Vorteile, stellt allerdings eine Wertschätzung für das Geleistete und zugleich eine große Motivation für die Zukunft dar. Genau darum ging es damals: Es war die Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg. Die Erhebung zur Marktgemeinde war ein Symbol der Anerkennung für über- standene Sorgen und für das Anpacken, um eine positive Zukunft zu gestalten. Lese ich die Rede, die anlässlich der Markterhebung gehalten wurde, ging es um die Hoffnung auf ein besseres Morgen: Schon bald werden wir zum großen Graz gehören, schon bald wird eine Tramway von Gösting bis nach Gratkorn fahren! Was tatsächlich kam, war aber der zweite Weltkrieg, erst dann folgte die Zeit des Wiederaufbaus. Die handschriftliche Chronik unserer Ge- meinde vermittelt einen guten Eindruck, was Nachkriegszeit bedeutet: eine über sehr viele Jahre währende Wohnungsnot, die Suche nach Arbeit, Nachwehen voll Verzweiflung – und ein großes Interesse an derWeltpolitik: Von der Kuba-Krise bis zum Prager Frühling fand alles Einzug in die Ortschronik. Warum?Weil jeder noch genau wusste, was Krieg bedeutet und jede Entwicklung, die den Weltfrieden infrage stellen konnte, eben wirklich sehr ernst genommen wurde. Tatsächlich hat sich vomEnde des zweiten Weltkriegs bis zum heutigen Tag die Welt auf vielfältige Weise verändert und das Tempo dieser Veränderungen ist immer schneller geworden. Gratkorn war praktisch eins mit der Papierfabrik. Sie brachte die Arbeit, sie errichtete mietfreieWohnungen, sie küm- merte sich um Schulen, Vereine, Sport und alles, was das Miteinander in einer Gemeinde ausmachte. Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger von Gratkorn! Mir wurde als neuer Bürgermeister die Ehre zuteil, ein Vorwort zu 100 Jahre Marktgemeinde Gratkorn zu verfassen. Ein Jubiläum ist ein ganz besonderes Ereignis, das uns über den Alltag hinaushebt, das uns auffordert, den Blick zurück zu machen und die vielen positiven Entwicklungen wahrzunehmen, die in Gratkorn über diesen langen Zeitraum gelungen sind. Es ist aber auch eine Aufmunterung, nicht nur das Erreichte zu feiern: Mit der Energie und Freude an Weiterentwicklung, die in uns allen steckt, werden wir auch die Aufgaben der Zukunft meistern! Der Weg, den die Papierfabrik von einer kleinen Mühle zu einem bedeutenden Konzern machte, war auch der Prozess der Industrialisierung, der vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert reichte. Was folgte, war die sogenannte Globali- sierung ab den frühen 80er-Jahren: Die Papierfabrik wechselte die Eigentümer. Ganz andere Interessen kamen zum Tragen: Die für selbstverständlich erach- tete Erfolgsgeschichte verlor merklich an Geschwindigkeit. Gratkorn begann sich von der Papierfabrik zu emanzipieren. Neue, auch große Unter- nehmen siedelten sich an. Und auch die Gratkorner Bürgerinnen und Bürger arbei- ten nicht mehr alle in der Papierfabrik, das Wirtschaftsleben wurde vielfältiger. Heute leben wir in der Zeit der Digi- talisierung: Die Anforderungen an die Menschen wandeln sich damit neuerlich. Vor allem in der Industrie arbeiten fast nur noch Spezialisten – mehr, als Gratkorn selbst anbieten kann. Damit steigt auch der Zuzug. Das über 100 Jahre gepflegte Zusammengehörigkeitsgefühl beginnt schwächer zu werden. Früher bestimmten unsere Vereine die Freizeitgestaltung. Sie boten Möglich- keiten, sich zu treffen, zu unterhalten und zu vergnügen. Heute gibt es Smartphones, Smart-TVs und vieles mehr, das uns die Mühe erspart, nach der Arbeit noch ein- mal vom Sofa aufzustehen. Ich denke, derzeit wird das digitale Zeit- alter schon von einem neuen, dem öko- logischen Zeitalter abgelöst: Die größte Herausforderung ist die Bewältigung der Klimakrise. Ich rede nicht vonWeltklima- gipfeln, ich rede noch immer von Kom- munalpolitik: Wir müssen Bodenflächen erhalten, wir müssen klima-, natur- und menschengerechter bauen. Wir müssen Energie sparsamer einsetzen, wir müssen unsere Mobilität verändern und dafür ganz andere Verkehrsflächen schaffen. Und ebenso wichtig: Wir müssen für uns das Gemeinsame, das Verbindende neu erfinden. Sich zu verändern – und wir alle müssen uns und unser Verhal- ten verändern – das ist nicht einfach. Daran führt aber kein Weg vorbei. Eine 100-Jahr-Feier muss deshalb mehr sein als ein Rückblick: Sie ist, so wie die Erhebung zur Marktgemeinde, ein Symbol des Anpackens und des Willens unsere Zukunft aktiv zu gestalten. Ihr Michael Feldgrill | Bürgermeister 100 Jahre Marktgemeinde Gratkorn

RkJQdWJsaXNoZXIy NjM5MzE=